4 Monate ohne Alkohol
Was für ein Meilenstein. 122 Tage ohne Kater. Mindestens 122 leere Weinflaschen nicht zum Altglas-Container getragen. 73.000 eingesparte Kalorien. Inklusive Drinks in Bars und Restaurants um die 1800 Euro gespart. Taxis on Top. Für das Geld habe ich gleich mal einen Cluburlaub auf Kreta gebucht. Das habe ich mir verdient. In dem wunderbaren Buch The Unexpected Joy of Being Sober von Catherine Gray heißt es, an Tag 100 müsste mindestens eine Einhorn-Parade auflaufen, um uns gebührend zu feiern. So viel haben wir geleistet. Seltsamerweise ging es mir an Tag 99 und 100 gar nicht so bombe. Und die Einhörner kamen auch nicht vorbei. Frechheit!
Richtig motiviert hat mich da die Sober-App, die die nüchternen Tage zählt. Tag für Tag, Minute für Minute, Tick, Tack. Anfangs dachte ich immer, wenn ich einen Tag mal schwach werden sollte, stelle ich die App einfach um einen Tag zurück. Dann wurde mir aber klar, warum das keine gute Idee ist. Denn allein der Gedanke, wieder an Tag 1 anfangen zu müssen, hielt mich davon ab, überhaupt auf die Idee zu kommen, zu trinken. Ich vergleiche das mit "Mensch ärgere dich nicht": Kurz vorm Ziel wird man rausgeschmissen und man muss erneut am Startpunkt beginnen. Spielbretter fliegen vom Tisch, die Figuren wirbeln durch die Luft. Wer will das schon. Catherine Gray vergleicht es mit einem Computerspiel. Du lernst auf deinem Weg zum Ziel. Wenn du scheiterst und wieder von vorne anfangen musst, macht man das mit viel mehr Erfahrung. Das Gelernte bleibt dir. Es hat sich in dein Gehirn eingebrannt. Wie das Fahrradfahren. Oder das Geigespielen, das man als Kind erlernt hat. Irgendwann staubt das Instrument vor sich hin. Aber kaum liegt es Jahre später wieder auf der Schulter, kann man wieder spielen. Vielleicht nicht gleich wie ein Mozart. Aber man fängt nicht bei Null wieder an. Das Wunder Gehirn.
Apropos lernen, was ich auf meiner Reise an Wissen angehäuft habe, ist wirklich ein weiterer Grund, stolz zu sein. Es begann mit dem Buch "Nüchtern" von Daniel Schreiber. Mit einem Textmarker bewaffnet, habe ich dieses Buch regelrecht studiert und meine Aha-Momente knallgelb gekennzeichnet. Immer wieder habe ich diese Stellen wie eine Art Mantra gelesen. Darauf folgte das 30-Tage Programm von Nathalie (OAMN). An Tag 3 fuhr ich mit einem überaus trinkfreudigen Freundeskreis auf einer kleinen Nordsee-Insel. Als Tagesaufgabe hieß es im Programm, man solle sich einen Talisman suchen. Fand ich zwar seltsam und bissl awkward, wie es so schön auf Neudeutsch heißt. Aber, ich habe Nathalie völlig und ganz vertraut und alles Schritt für Schritt abgearbeitet. Mein Talisman wurde ein kleiner Heuler aus Stein, den ich mir im Souvenir-Shop auf dem Schiff gekauft habe. Seitdem sitzt er bei mir im Badezimmer und verursacht von dem einen oder anderen Gast ein leicht ironisches Erstaunen, weil ich so gar nicht der Souvenir-Typ bin. Meine Antwort: "Das ist eine längere Geschichte, warum er da sitzt." Wer will schon längere Geschichten hören? Niemand. Und so ist das Thema vom Tisch.
Die eine Woche auf dem kleinen Idyll waren im Nachgang mit die besten Tage, die ich auf meiner Reise in die Nüchternheit erlebt habe. Jeden Morgen bin ich sehr früh aufgestanden, bin allein über die Insel gewandert, habe mich in einen Strandkorb gesetzt, meditiert, die Robben beobachtet und eine köstliche Latte im Café auf der Insel genossen. Dabei wehte mir ein kräftiger Wind um die Nase. Bis sich der Rest der Crew, fast alle verkatert, aus den Federn gekämpft hatte, hatte ich bereits meine tägliche Aufgabe aus dem 30-Tage-Programm erledigt und meine Apple Watch zeigte 10.000 Schritte an. Holla, die Waldfee! Ich fühlte mich aber dennoch wie ein Einsiedlerkrebs, den man in ganz fremde Gefilde ausgesetzt hatte. Denn, morgens frisch aufzuwachen (Juhu), sich abends nach dem Essen zu verabschieden, allein ins Ferienhaus und früh schlafen zu gehen, entspricht so gar nicht meiner ansonsten sehr geselligen Natur. Meinen Freunden hatte ich als Ausrede die Geschichte von den Schmerzmitteln erzählt, die ich wegen meiner angeschlagenen Hüfte nehmen musste. Das hat mir auch jeder abgenommen, da ich wirklich ziemlich unrund laufe und mich sowieso schon jeder darauf anspricht. Mich innerhalb von 20 Reisebegleiter:innen so dermaßen zu "verpuppen", keine lustigen (Ironie-off) Strandspiele mitzumachen, die natürlich mit dem Bierchen danach verbunden waren, war schon gewöhnungsbedürftig. Stattdessen saß ich im Strandkorb und blickte bedeutungsschwanger übers Meer. Das hatte etwas sehr Neues aber auch Wertvolles für mich. Die Bücher, die mich während dieser Woche begleitet haben, waren einmal meine "Bibel" "Quit like a Woman" und für die Unterhaltung "Eine Frage der Chemie". Beide haben ihren wertvollen Beitrag zu meinem unglaublichen Seelenfrieden geleistet. So wurden in den letzten vier Monaten Bücher zu meinen sehr wichtigen Therapie-Begleitern.
Ab Tag 30 habe ich mich in der Facebook-Gruppe von Nathalie mit eingebracht. Vorher war ich nur stumme Leserin. Aus der Deckung zu treten, um Verbindlichkeiten zu schaffen, war der nächste megawichtige, wenn auch nicht einfache Schritt.
Apropos Verbindlichkeiten, eingeweiht habe ich drei enge Freundinnen und meinen Sohn. Die von ihnen geäußerte Freude darüber und den Stolz, den sie dabei für mich empfanden, war auf der einen Seite zwar unglaublich schön, auf der anderen Seite aber auch erleuchtend. Wie schlimm es wohl wirklich um mich stand? Ich selbst hatte es so krass gar nicht gesehen. Die meiste Zeit hatte ich eh allein getrunken. Aber nie morgens oder mittags. Keine körperlichen Entzugserscheinungen usw, mit denen man sich sein Alkoholproblem schön redet. Seit gut zwei Jahren wurden aus einer 3/4 Flasche Wein am Abend eine ganze, später reichte die eine Flasche auch nicht mehr und ich brauchte danach noch mindestens einen Gin-Tonic. Als ich an dem Punkt angekommen war, war mir klar, ich muss etwas tun, wenn ich nicht eines Tages betrunken auf der Couch einschlafe und nicht wieder aufwache. So ist es einem jungen Mann aus meinem erweiterten Freundeskreis gegangen. Er war ein Jahr nüchtern, wurde rückfällig und wachte eines Morgens nach einem Totalabsturz nicht mehr auf.
Vor einem Jahr hatte ich schon mal mit dem Buch von Holly Whitaker angefangen und dann aber wieder aufgehört. Sie vergleicht Alkohol mit Raketen-Treibstoff. Dieser krasse Vergleich hat für mich im ersten Anlauf aber nicht ausgereicht. Schade, schade, aber rückwärts gewandtes Denken bringt eh nix.
Dennoch, längst war mir aufgefallen, wenn ich in einer Bar sitze und das erste Glas sich Richtung Ende neigte, ich schon hektisch nach dem Barkeeper geschielt habe. Wenn ich meinen Freundinnen vorgaukeln wollte, dass ich eine "normale" Genießerin bin, hatte ich am Abend in der Bar zwei Gin-Tonic, die ich ewig mit Wasser verdünnt hatte. Kaum zu Hause musste es aber weitergehen. Was für ein Zustand.
Jetzt habe ich also den Meilenstein 4 Monate Nüchternheit erreicht. Viele, viele Tage waren das reinste Honigschlecken. Also ein schöner, aber auch spannender Spaziergang auf der Reise zu meinem neuen Ich. Beziehungsweise zu meinem eigentlichen Ich. Dann kommen aber auch diese Abende wie gestern. Ein Geburtstagsessen und Spiele-Abend. Ich war müde und genervt von dem, was die Gastgeber erzählten, beim Spielen lustlos und unkreativ. Kreativität ist bei dem Spiel sehr gefragt (Room-Escape als eine Art Brettspiel). Die Gastgeberin, die schon richtig angetrunken war, sprühte vor Witz und Schlagfertigkeit, ich saß da wie ein müde Spaßbremse, und konnte zum Escapen so gut wie nix beitragen. Zwischendurch bin ich zur Toilette und habe meine Affirmationen aufgesagt. Ich bin nüchtern geblieben, war aber frustriert über das, was die nächsten Monate/Jahre so bringen werden.
Die Krönung des Abends passierte dann ausgerechnet zum Abschluss des Tages beim Lesen im Bett. In dem ansonsten köstlichen Buch The Sober Diaries von Clare Pooley erzählt sie, wie man Leuten auf die Sprünge helfen kann, die sich fragen, ob sie bereits ein Alkohol-Problem haben:
Trinkst du vor 18 Uhr?
Hörst du sofort mit dem Trinken auf, sobald du dich etwas benebelt fühlst?
Trinkst du öfters als 3 x die Woche?
Trinkst du allein?
Sobald du nur auf einem der Punkte mit Ja antworten musst oder unehrlich mit deinem eigenen Trinkverhalten bist, hol' dir Hilfe.
Puuh... Tja.. was soll ich dazu sagen? Wie gern habe ich allein getrunken, das natürlich beinahe jeden Abend und sehr oft vor 18 Uhr. Keine weiteren Fragen.
Aber, jetzt noch zur Krönung der Krönung. Clare schreibt, dass der Co-Founder der AA immer Folgendes geantwortet hat, wenn er gefragt wurde, warum man nach einer Phase der Nüchternheit nicht zum "moderaten" Trinker werden kann. Er führt da folgenden Vergleich auf:
Man kann eine Gurke auf dem Weg zur Gewürzgurke immer noch aufhalten. Sobald der Prozess der Metamorphose aber abgeschlossen ist und die Gurke zur Gewürzgurke wurde, gibt's kein Zurück. Mit den Gedanken bin ich also eingeschlafen, ich werde den Rest meines Lebens als schrumpeliges Pickel fristen. Mimimimi.
Heute Morgen kann ich darüber schon wieder lachen. Wenn wir mal ehrlich sind, schmeckt eine Salatgurke im Prinzip nach nix. Erst als Gewürzgurke steckt sie voller Aromen und – betrachten wir es mal so – voller spannender Lebenserfahrung.
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