Ein ganzes halbes Jahr
Sechs Monate, oder anders ausgedrückt, 183 Tage nüchtern. Wow! Ich bin zufrieden und dankbar, aber nicht immer rauschlos glücklich. Das ist auch ein Teil meiner Story. Mein Werdegang mit Mr. G(in) und Mrs. Whitewine war viel zu lang, um meine Nüchternheit als einen einzigen glücklichen, auf rosa Wolken wandelnden Spaziergang zu bezeichnen. Bis heute habe ich immer wieder mal mit Cravings zu kämpfen. Meistens in Verbindung mit Panik um meine kleine Ein-Frau-Firma. Zahlen z. B. Geschäftspartner nicht, und das gleichzeitig, verfalle ich sofort in einen krassen Verarmungswahn. Das geht mit Herzrasen und Angstzuständen einher. Da half früher dann schon der Wein. Für den Moment. Aber die Betonung liegt auf Moment. Ich weiß, dass davon meine Geschäftspartner nicht schneller zahlen und dass ich mich am nächsten Tag viel zu sehr ärgern würde.
Getrunken habe ich seitdem ich 15/16 Jahre jung bin. Viel zu jung saß ich am Rand der Falle. Am Anfang mit Ekel. Dann tut man alles, um sich an den Geschmack zu gewöhnen, damit man zu den Coolen in der Schule gehört. Heute bin ich 62 Jahre alt, habe einen erwachsenen Sohn und bin zum zweiten Mal verheiratet. Üble Abstürze mit Blackouts hatte ich schon immer. Aber dass das Trinken dann zum ständigen, beinahe täglichen Begleiter wird, hat bestimmt 10 Jahre gebraucht. Ich schätze mal, seit mein Sohn ausgezogen ist, schlich sich die Regelmäßigkeit in meinen Alltag.
Mein erster Schritt in mein neues Leben begann im Prinzip bereits vor anderthalb Jahren. Da hatte ich bemerkt, dass ich die Macht über mein Trinkverhalten verloren hatte. Meine Hände waren wie fremdgesteuert, sie griffen zum Gin. Oder sie öffneten den Kühlschrank, um den Weißwein herauszuholen. Auch wenn ich mir fest vorgenommen habe, heute trinke ich nicht. Manchmal habe ich zwei, drei Tage ausgehalten, nüchtern zu bleiben. Dann sammelte sich aber abends vorm Fernseher (oft so langweilig) ein seltsamer Druck hinter meinem Brustbein. Das war so unangenehm, dass ich dann meist aufstand, um mir einen Wein zu holen oder einen Gin-Tonic zu mixen. Heute weiß ich, das waren Entzugserscheinungen. Mir zitterten nie die Hände, ich habe nie Flaschen versteckt oder dergleichen. Allerdings kam es im letzten Jahr vor, dass ich bei meinen Mädels-Abenden vorgab, ich hätte alles im Griff. Ich trank stark mit Wasser verlängerte Gin-Tonics. Dann wollte ich aber auch oft früher gehen, um dann zu Hause in Ruhe und ohne Druck weiter zu trinken.
Da ich schon immer ein unabhängiger Mensch war, hat mir das natürlich überhaupt nicht ins Konzept gepasst, abhängig zu sein. Und das nicht von einem tollen Typen, für den sich es zwar auch nicht lohnt. Aber immer noch besser als von Flaschen.
Meinen Abschiedsabend vom Alkohol hatte ich am 8.6.22. Es war ein lauer Sommerabend auf dem Balkon. Mein Mann saß vorm Fernseher, ich war allein und zufrieden mit mir und meiner Welt. Nach einer Flasche Wein schenkte ich mir noch einen richtig großen Gin-Tonic ein. Da wusste ich noch nicht, dass es mein Abschied ist.
Am nächsten Morgen nach diesem glückseligen Abend bin ich aufgestanden und sagte mir, so kann es nicht mehr weitergehen. Ich habe mir das Buch Nüchtern von Daniel Schreiber bestellt, es beinahe inhaliert, viele Stellen neongelb markiert und danach das 30-Tage-Programm Ohne Alkohol mit Nathalie (OAMN) gebucht. Diese 30 Tage waren magisch. Für mich war es völlig okay, mich einzuigeln, auch unter Menschen. Teilweise unter vielen Menschen. In einem Buch habe ich gerade Folgendes gelesen: "Meine Metamorphose war rückwärts. Also vom Schmetterling zur Raupe". Das kann ich komplett unterschreiben. Allerdings hat sich das ab ungefähr Tag 90 nicht immer klasse angefühlt. Manchmal fühle ich mich einsam und verlassen. Wenn ich mit Freunden zusammen war, quälte mich so eine ekelige innere Unruhe, dass ich froh war, wieder zu Hause mit meinen Büchern im Bett zu sein.
Apropos Bücher, ohne meine Bücher (Liste siehe unten) hätte ich es auch nicht geschafft. Alle, außer Nüchtern und Ohne Alkohol, habe ich auf Englisch gelesen. Das gehörte und gehört zu meiner Therapie, da ich mich viel mehr konzentrieren musste, um alles zu verstehen. Ich bin darin regelrecht versunken. Extrem haben mir die Parts über die Vorgänge im Gehirn geholfen. Dass der "Neandertaler-Teil" in unserem Wunderwerk nur bis drei zählen kann, also doof ist wie eine Scheibe Toast, aber dafür verantwortlich ist, dass ich mir eine Flasche Wein in den Einkaufswagen lege, obwohl ich es überhaupt nicht will, hat mir so die Augen geöffnet und mir extrem geholfen. Mein Fazit: Von dem lass ich mir doch nix sagen. Wo kommen wir denn dahin! (siehe mein erster Blogeintrag: 50 Tage nüchtern).
Zu den Büchern gesellten sich Affirmationen, Dankbarkeits-Routinen und diverse Podcasts. Natürlich der von Nathalie und Tanzen kann man auch auf Brause. Kann ich mal nicht einschlafen, stelle ich mir den Timer auf 10 Minuten, schalte eine Folge ein und schlafe meist schon nach 5 Minuten tief und fest. Das mache ich auch, wenn ich mal nachts aufwache, weil mich irgendwelche Gedanken (meist Job, siehe oben) quälen. Funktioniert auch wunderbar als Wieder-Einschlaf-Hilfe.
Verbindlichkeiten sind auch so mega wichtig. Wenn es nach mir ginge, könnte ich es jedem erzählen. Mich hat eine süchtig machende Droge süchtig gemacht und deshalb trinke ich nicht mehr. So als ob man keine Berliner (Krapfen) mehr isst, weil man davon Sodbrennen bekommt. Da würde aber niemand sagen, Was?, nicht mal einen kleinen Bissen? Auf die Stigmatisierung, die mit dem "Alkoholiker-Outing" einhergeht, möchte ich momentan noch verzichten. Oder auf die guten Ratschläge à la "Dann hör doch einfach nach einem Glas wieder auf". Mal sehen, was die Zeit bringt. Aber meine besten Freundinnen, mein Mann und mein Sohn sind eingeweiht. Mein Sohn sagte, ich glaube zum ersten Mal, er wäre so stolz auf mich. Wie süß ist das.
Im Programm von Nathalie ist Bewegung ein wichtiger Part. Da ich schon immer gern Sport getrieben habe, war das für mich die leichteste Aufgabe. Nüchtern ist der Trainingseffekt natürlich viel größer. Häufig habe ich mich verkatert in den Yoga- oder Pilateskurs geschleppt, um dann nur halb mitzumachen.
Viele von meinen Weggefährt:innen schreiben in der App oder auf der Facebookseite von OAMN, dass ihr Trinken immer mit Scham einherging. Das kann bzw. konnte ich überhaupt nicht unterschreiben. Eine meiner besten Freundinnen, die mich für meine Abstinenz richtig feiert, und mit der ich früher zusammen ständig aus einer angesagten Bar in München getorkelt bin, sagte, "unsere Abende waren einfach 'Porn'. Aber wir wollen ja in Würde altern. Dazu passt das Barfly-Leben eh nicht mehr". Da musste ich richtig lachen und habe ihr Recht gegeben. Wenn ich jetzt in diesem Moment, während ich das hier schreibe, über das Wort "Porn" (Synonym für geile Zeit) nachdenke, muss ich sagen, nein, es war eher peinlich. Die Barkeeper haben sich gefreut. Umso betrunkener wir waren, umso absurd höher fiel die Rechnung und das Trinkgeld aus. Wahnsinn, wie mir diese Gedanken gerade ein AHA-Erlebnis bescheren. Da sieht man mal wieder, auch Schreiben ist Therapie und hilft so extrem weiter.
Aber in Würde altern und nicht morgens tot auf dem Sofa liegen, das passt zu meiner Entscheidung. Wie sagte neulich Robbie Williams während seines legendären Konzerts in der Elphi in Hamburg, als es um seine Entscheidung ging, sober zu werden: Live or Die. Er hat sich fürs Leben entschieden.
Bücherliste:
Nüchtern von Daniel Schreiber
Ohne Alkohol – Die beste Entscheidung meines Lebens von Nathalie Stüben
Quit Like a Woman von Holly Whitaker
The Unexpected Joy of Being Sober von Catherine Gray
We Are the Luckiest von Laura McKowen
This Naked Mind von Annie Grace
Stop Drinking Now von Allen Carr
The Sober Diaries von Clare Pooley
Girl Walks Out of a Bar von Lisa F. Smith
#nüchtern #sober #alkohol
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