1. Sober Birthday

                                   


Ein Jahr nüchtern - Mit Soda on the Rocks

 Ein Interview mit mir selbst

War's ein leichter Weg? 
Im Prinzip ja, wenn auch nicht immer eben. Mal ging's bergauf, dann auch mal bergab, hier und da habe ich mit der Hilfe von Craving-Bewältigungsstrategien und/oder in der OAMN-Gruppe (App) Stolpersteine mit Bravour umkurvt. Aber ja, im Prinzip war's einfach. Einfach auch deshalb, weil's bei mir im Kopf Klick gemacht hat. Tosend laut. Ich wusste schon länger, dass ich komplett die Kontrolle über mein Trinkverhalten verloren habe. Ich konnte nicht mehr selbst bestimmen, ob und wie viel ich trinke. Am 8. Juni 2022 wusste ich noch nicht, dass ich an dem Abend meinen letzten Gin-Tonic getrunken hatte. Also einen oder waren es zwei (?). Also nach einer Flasche Wein. Vermisse ich den Alkohol? Meistens nicht. Aber es gibt schon Anlässe, Mädelsabende z. B., bei denen ich mir wünsche, ich hätte es früher erkannt, dass ich in die Sucht abgleite. Zu bewältigen, aber die Gedanken sind da. Und natürlich ist mir klar, wie stark ich von Instagram, der Werbung und vielem mehr beeinflusst werde. Was da alles in ein Glas mit prickelndem Inhalt hineininterpretiert wird, ist absurd. Als ob Mineralwasser nicht sprudeln würde. Es gibt haufenweise Trigger. Dazu gehören der Sommer, Langeweile, Enttäuschung, Ablehnung, Erschöpfung und Belohnung. Früher habe ich diese Auslöser nicht erkannt. Ich habe nicht mal gewusst, dass es sie gibt. Nüchtern wird man nicht auf Knopfdruck, ich musste extrem viel lernen und mein Leben erst einmal komplett auf den Kopf stellen. Was habe ich gelernt? Quit-Literatur, meist auf Englisch, so musste ich beim Lesen stärker konzentrieren, was eine wunderbare Ablenkung war und ist, Podcasts zum Thema und die OAMN-Gruppe haben mir viel über Sucht beigebracht. Am meisten hat mich diesbezüglich die Erkenntnisse der Gehirnforschung weitergebracht. (Siehe mein 1. Blogeintrag). Was passiert in meinem Suchthirn? Warum greife ich zur Flasche, obwohl ich es überhaupt nicht will? Wer steuert die Marionettenfäden, an denen ich willenlos hänge? Das zu begreifen, war für mich einer der größten Schlüssel. Sich von dieser Fremdbestimmung zu befreien, ist für mich mit das Großartigste am Nüchternsein. Das möchte ich nicht wieder hergeben. Auch wenn ich es nicht täglich feiere. Einen verkaterten Tag würde ich aber auch nicht feiern. Also so what. That's Life. Aus den Büchern, Podcasts und Erfahrungsberichten aus der OAMN-Gruppe habe ich gelernt, dass das "nur" ein Glas "zum Anstoßen" eben nicht geht, dass das kontrollierte Trinken eine Legende ist. Warum soll ich mir mit Selbstversuchen auch noch die Hände verbrennen, nachdem es Millionen andere vor mir gemacht und darüber berichtet haben? Es funktioniert nicht. Die Sucht ist zwar in meinem Gehirn vergraben, liegt aber noch auf der Lauer. In einem Buch habe ich einen Vergleich gelesen, der das Ganze auf den Punkt bringt und der mich erst heulen ließ und später dann nachhaltig beeindruckt hat: Wenn sich eine Gurke auf dem Weg zur Gewürzgurke begibt, kann sie den Prozess jederzeit abbrechen. Ist die Metamorphose aber abgeschlossen, gibt es kein Zurück. Die Gewürzgurke bleibt eine Gewürzgurke. Ein kleiner Trost am Rande: Sie sieht zwar nicht mehr so schön aus, hat aber viel mehr Gehalt und Charakter. So ist es mit dem Suchtgehirn. Da hilft kein Zetern und kein Jammern. Es gibt kein Zurück. Dafür aber auf zu neuen Taten! Yeah! Wenn der Wunsch aber doch hochkommt, mir ein Glas "zu gönnen", sehe ich es wie Robbie Williams, der sagte, für mich gab es zwei Optionen: To live or to die. Oder wie Robert Downey Jr., der auf die Frage, ob er ein Glas Wein trinken möchte, mit Ja, sehr gern, antwortet, aber er hätte an Weihnachten noch was vor. Also nein. Wir sind also von einem riesigen illustren Umfeld umgeben. Hat sich viel in meinem Leben geändert? Da muss ich noch mal das schöne Wort Metamorphose benutzen. Anfangs fühlte ich mich wie ein Schmetterling, der sich zurück zur Raupe verwandeln musste. Mit anderen Worten, ich habe totales Cocooning betrieben. My Bed was and is my Castle. Nüchterne Abende mit Freunden haben mich häufig angestrengt. Dann kamen aber die ersten Zusammenkünfte, bei denen ich mich amüsiert habe wie früher. Das bezieht sich aber nur auf abends. Auch eine gute Erkenntnis, wie Alkohol mit Erinnerungen verbunden ist. Diese müssen überschrieben werden. Immer wieder aufs Neue. Tagsüber hatte ich nämlich häufig sehr viel Spaß und das zu 99 % (Restalkohol vom Vortag ausgeklammert) ohne Promille. Seit ein paar Wochen kann ich auch abends richtig lange an einem Tisch sitzen bleiben, ohne irgendwann fluchtartig das Geschehen verlassen zu müssen. Ich beobachte aber immer noch die Gläser und Flaschen auf dem Tisch und wer, wie und wann anfängt, die Kontrolle zu verlieren, wer's im Griff hat usw. Es hat Zeit und Anlässe gebraucht, bis ich langsam gespürt habe, ich muss nicht trinken, um abends locker zu werden (tagsüber war ich es ja meistens, wie seltsam ist das?). Ich muss nicht trinken, um mich zu amüsieren. Ich muss nicht trinken, um mich kaputt zu lachen. Das hängt natürlich auch von den Leuten ab, mit denen ich zusammen bin. Haben sich Freundschaften verändert? Ja, das haben sie, wenn auch schleichend. Da wurde ich dann schon mal nicht gefragt, ob ich mit zum Griechen gehen möchte. Ich erkläre es mir so, dass diese Freundinnen mir zwar nicht weh tun möchten, sie aber auch gern mal ohne schlechtes Gewissen trinken wollen. Meine Abstinenz hält denen den Spiegel vor und das ist für die Mädels unangenehm. Das Thema hängt immer über uns, obwohl ich gar nicht darüber sprechen möchte. Manchmal bereue ich es, dass ich zu viele nahe stehende Menschen eingeweiht habe. Auch wenn Verbindlichkeit ein wichtiger Schlüssel zum Nüchternwerden ist. Sie verschließt Hintertüren. Definitiv. Andere Freundschaften sind stärker geworden. Meine längste und allerbeste Freundin hat sich sehr an meinem Konsum gestört, was sie mir erzählt hat, nachdem ich sie in einem sehr innigen Gespräch darüber informierte, dass ich seit 3 Monaten nüchtern lebe und alles daran setze, es zu bleiben. Mein liebster Sauf-Freund, mit dem ich mich stets aufs Neue ins Münchner Nachtleben verliebt hatte, ist zwar noch an meiner Seite. Allerdings ist das Ausgehen mit ihm weniger flirtig, was wirklich schön war, und lange nicht mehr so witzig. Mal sehen, was daraus wird. Ich vermisse diese Abende, auch wenn sie höchstens alle drei Monate stattgefunden haben. Möchte ich für diese seltenen Momente alles hinschmeißen? Nein, es steht in keiner Relation. Stigmatisierung & Begriffe Nenne ich mich Alkoholikerin? Noch schlimmer, trockene Alkoholikerin? Wenn jemand trocken ist, dann die Weinhexe in mir (dazu später mehr). Aber ich? Das passt so gar nicht zu mir. Warum sollte ich mir einen Stempel auf die Stirn drücken lassen? No way! Auf keinen Fall! Warum soll ich mich, die abstinent lebt, in einer Runde, in der alle fröhlich konsumieren, als "trockene Alkoholikerin" bezeichnen? Das sehe ich überhaupt nicht ein. Das ist für mich eine völlig verkehrte Welt. Als mich ein schwuler Freund, der stets die immer noch fehlende Toleranz in Sachen Homosexualität kritisiert, vor allen Gästen laut und belustigt fragte: "Bist du etwa trockene Alkoholikerin?", habe ich zum ersten Mal entsprechend geantwortet: Warum sollte ich es sein? Ihr trinkt hier flaschenweise Prosecco, ich nur Wasser und Cola Zero. Wer sind hier also bitte die Alkoholiker*Innen? Noch Fragen? Wenn mir ein Wein angeboten wird, antworte ich häufig eher humorvoll. Auf einem absurd riesigen Kreuzfahrtschiff mit zig Decks fragte mich ein Kellner: Do you like a wine? Ich: No, thanks, I'm the Driver. Der Blick des Kellners, unbezahlbar. Bei der Vorstellung, wie ich mit Kapitänsmütze auf dem Kopf diesen riesigen Pott steuere, könnte ich mich heute noch kaputt lachen. Humor ist die beste Medizin. Kam mir das erste Jahr lang vor? Am Anfang zog es sich wie Kaugummi. Aber dann konnte ich feststellen, dass ich mein erstes Soberjahr viel intensiver erlebe. Ich erinnere mich an so viel Einzelheiten, hatte keine Filmrisse, keine verkaterten Tage auf der Couch. Bin nicht mit Restalkohol im Blut zur Arbeit gefahren, musste mich nicht durch den Tag quälen. Und was ich alles erlebt habe. Ich war mit trinkfreudigen Freunden auf der Düne (Schwesterinsel von Helgoland), habe meinen Sohn im Ausland besucht, wo's Stress mit ihm gab und ich früher abgereist bin und mich schon gesehen habe, wie ich der Stewardess die Rotweinflasche vom Wagen reiße (habe ich nicht, Yeah!), bin nach Kreta in den Robinson Club gereist und war zum Abschluss des Jahres noch auf einer Kreuzfahrt mit der Aida. Überall um mich herum wurde getrunken. Hinzu kamen Konzerte, das Oktoberfest, Reisen zu Musicals und jetzt im Mai ging's nach Liverpool zum Eurovision Song Contest. Alles ohne Alkohol. Einige, sich wiederholende Events, die ich nie nüchtern erlebt habe, konnte ich in meinem Hirn überschreiben. Ich sehe mein Hirn wie eine – nennen wir es mal Stadt – in die viele breite Straßen gezogen worden sind. Hier entwickeln sich allmählich kleine Seitengassen, die irgendwann so groß werden, dass sie die Straßen überdecken. Das braucht Zeit, Geduld und viele Wiederholungen. Wie beim Training. Der Muskel wächst auch nicht innerhalb von Tagen und ohne Übung. Wie nenne ich meine Suchtstimme? Ich nenne sie Weinhexe. Ich stelle sie mir vor, wie die aus Disneys Schneewittchen. Statt den vergifteten Apfel versucht sie mir Wein anzudrehen. Auch Gift. Schon klar. Sie, die hässliche Hexe, liegt in einem mit Unkraut überwucherten Steinsarg. Wie die Särge aus "Tanz der Vampire" (die Friedhofsszene. Oops, Ohrwurm). Manchmal wacht die Alte auf und versucht, ihre knochigen Finger mit dreckigen langen schwarzen Nägeln aus dem Steindeckel zu strecken, um mich anzuflehen, ihr, der armen fast Verdursteten, "nur" ein Glas zu reichen. Manchmal kreische ich sie richtig an. Also, wenn mich keiner hört. Zum Beispiel im Auto: Verpiss dich!!!!!!!! Das mache ich solange, bis in mir das Bild auftaucht, wie die Hexe den Deckel wieder zuzieht. Nicht mal einen Fingernagel lass ich rausschauen. Wahrscheinlich habe ich als Kind zu viele Disney-Filme gesehen, aber bei mir funktioniert's. Und darauf kommt es an. Vermisse ich den Alkohol? Soll ich ehrlich sein? Ich bin froh, dass ich (Danke Nathalie Stüben fürs Zitat) den Scheiß nicht mehr brauche. Auch wenn es kein ewiger und täglicher Struggle ist, fühlt es sich für mich immer noch so an, als wäre es erst gestern gewesen, dass ich zum letzten Mal Wein getrunken habe. Achtung! Triggerwarnung! Der erste Schluck ist immer noch sehr präsent. Auch der erste Schluck vom Gin-Tonic ist nach wie vor unvergessen. Das Kling-Klong der Eiswürfel. Diese Entspannung, die damit einhergeht, das Vergessen, das Lockerwerden, der Geschmack. Aber, sollte eine Tablette erfunden werden, die dafür sorgt, dass ich nach einem Glas aufhören kann, wüsste ich nicht, ob ich diese einnehmen würde. Zu stark habe ich mich mit dem Nervengift, der gesellschaftlichen Stellung, der Alkohol-Lobby auseinandergesetzt. Gerade hat wieder einer von der CSU getwittert: In Bayern werden wir es nicht zulassen, dass Drogen legalisiert werden. So, so... Darauf ein Maß Bier habe ich geantwortet. Es ist alles so verlogen, so manipulierend. Triggerwarnung Ende. Was hat sich verändert? Ich habe keine Schmerzen mehr. Wie weggeblasen sind sie. Oft taten mir nach einem Arbeitstag die Beine so höllisch weh, dass ich kurz davor war, den Notarzt zu rufen. Nach einer Flasche Wein und einer Ibuprofen ging's besser. Meine innere Unruhe hinterm Brustbein ist weg. Der ungeduldige Blick nach dem Servicepersonal ist verschwunden. Aggressiv zu werden, weil wir im Flieger in der Reihe sitzen, zu der die Flugbegleiter*Innen zuletzt kommen. Vorbei. Der hektische Blick zu der sich leerenden Flasche – weg. Herzrasen in der Nacht. Was ist das? Apnoe? Verschwunden bis ganz selten. Ich hab' die Haare schön. Ich bin ein ganz klein bisschen leichter, habe es aber durch meine Suchtverlagerung zu Protein-Puddings, Protein-Eis und Schlagsahne echt krachen lassen. Oft hatte ich nach dem Trinken fiese Fressattacken. Die sind natürlich auch weg. Ich treibe viel Sport, habe ich aber auch verkatert gemacht, was echt übel war. Ich schlafe nicht mehr vorm Fernseher ein, schminke mich täglich ab und putze mir jeden Abend die Zähne. Wer sich schon mal selbst im Halbschlaf von der Couch ins Bett verfrachtet hat, weiß, was ich meine. Meinen über Monate anhaltenden literweisen Cola-Zero-Konsum habe ich massiv eingeschränkt. Zurzeit trinke ich am liebsten Wasser. Gern auch mal aus einem schönen Glas. Soda on the Rocks mit Zitrone. (Siehe Foto). Lecker. Scham & Selbstbetrug Meine Weggefährt*Innen schreiben immer wieder von der Scham, die mit dem Trinken einherging. Die war mir so gut wie fremd. Ich fand mein Leben als Barfly fürchterlich lustig. Da kommen jetzt erst so Dinge in mir hoch, die todespeinlich waren, auch wenn ich nachts keine Nachrichten verschickt habe oder neben einem mir bis dato unbekannten Mann aufgewacht bin. Was aber im letzten Jahr meiner "Trinkerin-Karriere" klar war, war das Ausmaß, mit dem ich meine Sucht zu verschleiern versuchte. In der Bar habe ich mir max. 2 Gin-Tonics bestellt. Diese habe ich mit Unmengen von Mineralwasser verdünnt. Denn, wenn ich einmal am Strohhalm gezogen hatte, war er weg, der Gin-T. Ich hab so schnell getrunken, so schnell konnte man gar nicht schauen. Wenn ich dann noch nüchtern die Bar verlassen habe (Seht, bin ich etwa eine Problemtrinkerin?), konnte ich nicht schnell genug nach Hause kommen, um dort weiterzutrinken. Will ich das noch mal? No way! Fazit: Ich musste mich mit Haut und Haaren aufs Nüchternwerden und auf das Programm von "Ohne Alkohol mit Nathalie" einlassen. Ich habe nichts hinterfragt, bin die ersten Wochen quasi durchs Leben geschwebt, ich habe ständig an mir gearbeitet, Dankbarkeitsrituale etabliert, Tagebuch oder Beiträge für diesen Blog geschrieben, Spiritualität und "Kalendersprüche" zugelassen und Affirmationen geübt. Jetzt heißt es: Auf zum nächsten Meilenstein.

Kommentare

  1. Ich bin sehr berührt und freue mich für dich ❤️ Glückwunsch 💗

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