Filmrezension:
The Outrun
The Outrun: Vom Drang, im Sturm nüchtern zu werden
Rona lässt nichts aus und ist am Tiefpunkt angelangt. Sie hat die Kontrolle über den Alkohol längst verloren. Selbst die letzten Schlucke in Gläsern, die andere Gäste im Pub stehen lassen, kann sie nicht ignorieren. Die Folgen sind erschreckend: wüste Beschimpfungen, Blackouts, blaue Flecken, Sex mit Männern, die sie gerade kennengelernt hat. Wenn man überhaupt von "kennenlernen" sprechen kann.
Sie schwört sich immer wieder Besserung. Doch sobald der Abend naht, wird der Drang zu trinken übermächtig. Süchtige kennen dieses verzweifelte Muster nur zu gut. Ich gehörte auch dazu.
Nach einem besonders einschneidenden schrecklichen Ereignis erkennt Rona, dass es so nicht weitergehen kann. Sie begibt sich in den Entzug und kehrt anschließend von London in ihren Heimatort zurück, eine der schottischen Orkney-Inseln. Für Städter wie mich eher eine dröge, spröde nicht besonders sympathische und liebenswerte Insel. Auch Rona kann die kraftvolle Natur anfangs nicht genießen. Den unablässigen Wind und das Dröhnen der Wellen übertönt sie mit wummernden Beats auf ihren Kopfhörern.
Ihr Vater betreibt dort eine Schafsfarm, und Rona hilft ihm bei der Arbeit. Doch die Rückkehr ins Elternhaus birgt ihre eigenen Gefahren: Ihr Vater, der an einer bipolaren Störung leidet, trinkt ebenfalls. Als er ein halbvolles Rotweinglas achtlos stehen lässt, wird Rona von ihrem Suchtgedächtnis überwältigt – und rückfällig.
Ein schwieriger Weg zur Heilung
Für viele wäre das Leben in dieser rauen Einsamkeit der reinste Alptraum. Doch für Rona ist es ein Weg zurück zu ihren Wurzeln. Die wilde Natur, die sie aus ihrer Kindheit kennt, scheint in ihrer DNA verwurzelt zu sein. Sie wird zu einem Schlüssel für Ronas Heilung.
Zwischen diesen Momenten der Selbstfindung kehrt Rona gedanklich immer wieder nach London zurück. In teils wilden, chaotischen Flashbacks werden die exzessiven Eskapaden ihrer Vergangenheit gezeigt. Hier liegt für mich die Schwäche des Films: Um die Zeitsprünge für das Publikum nachvollziehbar zu machen, ändert sich Ronas Haarlänge und -farbe ständig – eine Art visuelles Navigationssystem. Doch die Rückblenden sind sprunghaft: vorwärts, rückwärts, seitwärts, und wieder rückwärts. Für mich hätte es dieser technischen Spielerei nicht bedurft. Die ständigen Unterbrechungen stören die ansonsten bewegende Darstellung von Ronas Heilungsprozess. Es wirkt, als hätte der Schnitt krampfhaft versucht, dem Film zusätzlichen „Anspruch“ und/oder „Kreativität“ zu verleihen.
Ein Satz, der spaltet
Auf den Orkneys begegnet Rona einem kauzigen Mann aus der AA-Gruppe. Seine Worte „Es wird zwar weniger schwer, aber nie leicht“ hat mich wild mit dem Kopf schütteln lassen. Denn hier bin ich anderer Meinung. Mein Ansatz – Danke Nathalie Stüben und OAMN – lautet: Das Leben ohne Alkohol ist keine Qual. Es bedeutet Freiheit. Natürlich braucht es Zeit, um dieses Freiheitsgefühl zu erreichen, aber eine Perspektive, die das Leben ohne Alkohol auf Dauer als „schwer“ bezeichnet, ist nicht meine.
Symbolik und Authentizität
Der Film basiert auf Amy Liptrots Memoiren The Outrun. Der Titel bezieht sich auf eine abgelegene Region und symbolisiert zugleich Ronas Rückkehr dorthin, um nüchtern zu werden. So steht er sinnbildlich für Heilung und Selbstfindung.
Besonders berührend ist die allmähliche Rückkehr von Freude und Lebendigkeit in Ronas Leben. Das Glück kommt leise und unaufdringlich zurück - wie auf zarten Sohlen. Ein absolutes Highlight ist die Szene, in der Rona mit frisch gefärbtem, leuchtend orangefarbenem Haar im Rhythmus der Wellen die Natur dirigiert – ein Moment voller Rausch - ohne Drogen.
Saoirse Ronan in Bestform
Saoirse Ronan, die mehrfach für einen Oscar nominierte irische Schauspielerin, verkörpert Rona mit unglaublicher Authentizität. Sie trägt den knapp zweistündigen Film fast im Alleingang. In jeder Szene gelingt es ihr, Rona nuanciert und glaubwürdig darzustellen – ohne jemals in die Karikatur einer verzweifelten Trinkerin abzurutschen.
In einem Interview erklärt Ronan:
„Ich wollte den Betroffenen unbedingt gerecht werden. Man kann in viele Fallen tappen, wenn man ‚betrunken‘ spielen soll: Es zu übertreiben, zu chaotisch zu sein oder ein bisschen zu lallen und zu denken, das reicht. Das tut es aber ganz und gar nicht.“
Mit The Outrun ist Regisseurin Nora Fingscheidt ("Systemsprenger") ein kraftvoller Film gelungen, der zwar aus genannten Gründen Schwächen aufweist, aber vor allem durch Ronans Leistung überzeugt.
Meine Wertung: 7,5/10
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